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WIE EIN EXPERIMENT EIN GANZES STADT­ZENTRUM VERAENDERTE

Clara Dehlinger, Anne Stephan, Max Tristram


Wir springen ins Jahr 2040 und entwerfen ein neues Bild der Friedrichstraße, dessen Basis das derzeit stattfindende Realexperiment ist. Dieses Zukunftsbild stellen wir in einer Collage und einer rückblickenden Zeitungsreportage dar. Welche Potenziale sich wohl ergeben?
Viel Spaß beim Träumen!





Potenziale von Realexperimenten im urbanen Raum

Reallabore sind derzeit sehr beliebt. Als Reallabor bezeichnet man gewissermaßen die Weiterentwicklung von konventioneller Wissenschaft. Hierbei werden in einem konkreten Raum meist in der Stadt, die als Sozial- und Kulturraum verstanden wird, Innovationen untersucht und erprobt. Die Umsetzung von Reallaboren wird durch ihren experimentellen und aktiven Charakter daher als angewandte Forschung betrachtet. Als Werkzeuge zur Umsetzung von Reallaboren dienen sogenannte Realexperimente (vgl. Schneidewind, Scheck 2013).

Doch was ist der Wert davon, dass nun kollektiv experimentiert wird? Wird dadurch alles besser, lassen sich große aktuelle Probleme auf diese Art lösen? Was ist die Wirkung solcher Experimente in der realen Welt – oder was könnte sie sein? Bezogen auf die Gestaltung von städtischen Räumen im Umgang mit Gesellschaft und Umwelt ergibt sich folgende Fragestellung:

Welche Potenziale können Realexperimente entfalten, um Zukunftsvisionen zu gestalten, Transformationsprozesse anzuregen und langfristig Veränderung zu schaffen?

Im Folgenden werden wir uns dieser Frage auf theoretische Weise annähern und uns mit diesen Themen beschäftigen:

1. Charakteristika von Realexperimenten – mehr...

Das Experimentieren in der Stadt bedeutetet, in und an der Stadt zu lernen. Anhand von Realexperimenten ist es möglich, neues Wissen über die Stadt und ihre Bürger:innen zu generieren. Sie sind methodisch geeignet, um mit Unsicherheiten konstruktiv umzugehen (vgl. Groß 2017, S.22). Der Ansatz des Realexperimentes eignet sich so besonders für komplexe Situationen mit offenem Ausgang, wie es beispielsweise bei der Veränderung von Straßenräumen der Fall ist. Mit Hilfe von Realexperimenten kann dies konstruktiv untersucht werden. Sie bieten somit einen Rahmen, in dem Überraschungen gefördert und kontrolliert werden (vgl. Groß 2017, S.34) und lassen dadurch einen besseren Umgang mit Unvorhersehbarem zu. Realexperimente erfordern Offenheit gegenüber solchen unvorhergesehenen Ereignissen und ermöglichen die Sensibilisierung der beteiligten Akteur:innen für das Unbekannte (vgl. Groß 2017, S.23). Die überraschenden Ereignisse werden so verarbeitet, dass sie zu neuem Wissen führen, das für Kommunen und die Wissenschaft nützlich ist (vgl. Groß 2017, S.34). Realexperimente eröffnen daher “die Möglichkeit, Lösungswege für gesellschaftliche Problemlagen zu erproben” (Arnold und Piontek 2018, S.146) und “Wissen für eine gesamtgesellschaftliche Transformation zu erarbeiten” (Parodi et al. 2016b). Der transparente Umgang mit Nichtwissen ist maßgeblich für das städtische Experimentieren. Die Einigkeit über Nichtwissen sollte in Entscheidungsprozessen somit offen kommuniziert und einbezogen werden (vgl. Groß 2017, S. 33). Die Bürger:innen stellen in Realexperimenten eine aktive mitgestaltende und mitforschende Akteur:innengruppe dar (vgl. Groß 2017, S.34), auch wenn sie keine Fachexpert:innen sind. Das Experimentieren in und an realen Orten sollte immer den Anspruch innehaben, gemeinsam einen Beitrag zu Transformationsprozessen mit den Menschen und für die Menschen in der Stadt zu leisten (vgl. Schäpke 2017, S.10). Die folgende Tabelle fasst einige der spezifischen Merkmale von Realexperimenten zusammen und stellt die wichtigsten Unterschiede zu konventionell naturwissenschaftlichen Experimenten heraus. Hervorzuheben ist beispielsweise noch einmal die Bedeutung der Bürger:innen als zentrale Akteur:innen im Realexperiment, während naturwissenschaftliche Experimente explizit von Wissenschaftler:innen durchgeführt werden.

Realexperiment Experiment
Primäres Ziel Schaffung von Wissen zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen Schaffung von Wissen zur Lösung wissenschaftlicher Probleme
Dokumentation Dokumentation dem Thema, den Akteuren und der Intervention entsprechend und wie unter den jeweiligen Bedingungen umsetzbar umfassende Dokumentation nach wissenschaftlichen Standards
Experimentelles Umfeld Durchführung in einem lebensweltlichen ‚Raum‘ Durchführung im isolierten Labor
Durchführende alle Akteure eines Reallabors und Angehörige des jeweiligen lebensweltlichen ‚Raums‘ wissenschaftliches Personal
Wiederholbarkeit kann aufgrund seines Kontextes (beständiger gesellschaftlicher Wandel, keine kontrolliert herstellbaren Laborbedingungen) nicht exakt wiederholt werden muss zur wissenschaftlichen Validität wiederholbar sein
Reliabilität unkontrollierbare Bedingungen des Experimentes lassen kaum Aussagen zur Verlässlichkeit der Messungen zu hohes Maß der Verlässlichkeit der Messungen notwendig (Stabilität, Konsistenz, Äquivalenz)

Abb. 1: Unterscheidung Realexperiment und naturwissenschaftliches Experiment, aus: Arnold&Piontek 2018, S.147.

2. Erfolgspotenzial von Realexperimenten – mehr...

Reallabore und Realexperimente als deren Bestandteil sind heute vor allem deshalb so beliebt, weil sich die beteiligten Akteur:innen dadurch die Erreichung bestimmter Ziele versprechen. Den Erfolg von Realexperimenten zu messen ist aber gar nicht so einfach, vor allem, wenn gesagt wird, das Ziel sei, etwas zu lernen. Denn lernen kann man ja immer. Eine Frage, die sich hier stellt: Ist also jedes Experiment per Definition ein Erfolg? Unter anderem damit möchten wir uns in diesem Abschnitt auseinandersetzen.

Um den Erfolg von Experimenten besser bewerten zu können, betrachten wir hier zwei verschiedene Ebenen: eine konkret-inhaltliche und eine übergeordnete Meta-Ebene. Je nachdem, welche Ebene im Fokus steht, lässt sich der Erfolg von Experimenten unterschiedlich beurteilen. Diese Spannung zwischen der konkreten Veränderung im Hier und Jetzt und einer abstrakteren Veränderung etwa auf der Bewusstseinsebene wird daran deutlich, dass im Zusammenhang mit realen Experimenten auch von einer transformativen Potenzialentfaltung gesprochen wird. Als transformatives Potenzial verstehen wir die erhoffte Kraft von Realexperimenten, etwas im Vergleich zu einer vorher definierten Ausgangssituation ins Positive bzw. einen bestimmten Zielzustand zu verändern.

Zielebene 1: konkrete Inhalte

Einige Experimente haben mindestens ein inhaltliches, das heißt auf das Endergebnis des Experimentes bezogenes Ziel (z.B. bei einem Mobilitäts-Experiment: “Wir möchten durch eine Umgestaltung des öffentlichen Raums erreichen, dass hier jeden Tag 400 Radfahrer:innen vorbeikommen.”) Ob ein Experiment als erfolgreich bewertet werden kann, kann demnach sehr individuell und von diesem inhaltlichen Ziel abhängig bewertet werden. Die Bestimmung des Erfolgs kann also zum Teil recht einfach anhand eines Zielkatalogs bzw. den im Vorfeld oder im Verlauf des Experimentierprozesses festgelegten Schlüsselfaktoren, die zu einem bestimmten gewünschten Ergebnis führen sollen, sehr genau erfolgen.

Da Realexperimente grundsätzlich ergebnisoffen sind, kann es schwierig sein, ihren inhaltlichen Erfolg zu bewerten.

Zielebene 2: Übergeordnetes

Wir betrachten den Erfolg von Realexperimenten in diesem Abschnitt schwerpunktmäßig auf dieser zweiten Ebene der Meta-Ziele. Die Analyse von Erfolg findet zunächst nur theoretisch und nicht fallbezogen statt. Diese Zielebene stellt auch den Fokus der Realexperiment-Literatur dar und ergibt bezüglich der potenziellen Ergebnisoffenheit von Experimenten und des Bezugs auf Realexperimente im urbanen Raum mehr Sinn als die inhaltliche Zielebene. Im Kontext des Transformationspotenzials, das sich in unserem Fall auch stark auf die Transformation einer ganzen Gesellschaft beziehen kann (also ein schwer greifbares Ziel), ergibt es für uns Sinn, hier zu trennen und übergeordnete Ziele herauszuarbeiten.

Zu nennen sind hier vor allem folgende zwei Ziele, anhand derer der Erfolg eines Realexperiments bewertet werden kann: dass verschiedene Aktuer:innen etwas lernen und dass sie zum Handeln angeregt werden. Angestrebt wird ein sogenannter rekursiver oder auch zirkulärer Lernprozess, das heißt die “Verknüpfung von Wissenserzeugung (Erkennen) und Wissensanwendung (Handeln)” (Groß, Hoffmann-Riem & Krohn 2005, S.15). Im Gegensatz zu einem abgeschlossenen linearen Lernprozess geht es hier demnach darum, ganz bewusst immer wieder Erfahrungen, die im Zuge eines Lernprozesses gemacht werden, zu reflektieren und in den Lernprozess einzubauen bzw. direkt anzuwenden (siehe Abb. 2).



Dieser Lern- und Handlungserfolg müssen allerdings unabhängig voneinander beurteilt werden, da Lernerfolg nicht notwendigerweise mit Handlungserfolg einhergeht (vgl. ebd.). Jedoch ist laut Groß, Hoffmann-Riem und Krohn (2005) “rekursives Lernen […] nur dann erfolgreich, wenn ein vertieftes Systemverständnis die Möglichkeit schafft, eine Dynamik gezielt zu verändern.” (S.108). Das heißt, um reflektiert lernen zu können, ist es besonders wichtig, ein System mit seinen Elementen und Grenzen gut zu verstehen, bevor dieses inklusive seiner Antriebskräfte verändert werden kann.

Das Ziel, etwas zu lernen, gilt unabhängig vom speziellen Experiment und stellt laut Arnold & Piontek (2018) das primäre Ziel eines Realexperiments dar: “Schaffung von Wissen zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen” (S.147; siehe Abb.1). Es kann “ein Beitrag zur Lösung eines gesellschaftlich relevanten Problemfeldes geleistet werden” (Arnold & Piontek 2018, S.146), was zunächst sehr abstrakt klingt, aber im Zuge einer begleitenden Forschung bewertet werden kann.

Wichtig hervorzuheben ist außerdem, dass “nicht erfolgreich” im Sinne der ersten Betrachtungsebene, also der konkreten inhaltlichen Ebene, nicht negativ sein muss: Auch aus Misserfolgen kann oftmals einiges mitgenommen werden. In dieser Hinsicht könnte man sogar so weit gehen und sagen, dass jedes Experiment erfolgreich ist, da die beteiligten Personen immer etwas Neues lernen können (vgl. z.B. Groß, Hoffmann-Riem & Krohn 2005, S.35).

3. Rolle der wissenschaftlichen Begleitung – mehr...

Kann also jede Intervention im öffentlichen Raum, bei der vor allem das Lernen auf gesellschaftlicher Meta-Ebene angestrebt wird, ein Realexperiment sein? Was ist in diesem Kontext die Bedeutung von Wissenschaft, welche Rolle nimmt jene ein und wie wichtig ist eine strikt wissenschaftliche Vorgehensweise?

Wissenschaft ist allgemein die Entstehung von neuem Wissen. Reallabore und deren Experimente haben die Aufgabe, einen Übergang vom Wissen zum Handeln zu schaffen, sodass Wissensproduktion und Wissensanwendung zu einem in sich verzahnten, rekursiven Prozess werden (siehe Abb. 2). Mittels eines ergebnisoffenen Prozesses soll so Wissen entstehen, das in der Praxis etwas bewirkt (vgl. Reinermann und Behr 2017, S.8). Aufgrund dieses aktiven, verändernden Anspruches wird die Wissensgenerierung durch Realexperiment auch der sogenannten transformativen Forschung zugerechnet, dem aktiven Entwickeln von Lösungen von technischen und sozialen Innovationen (vgl. Arnold und Piontek 2018, S.145). Die Wissenschaft begreift sich im Rahmen von Realexperimenten als Entstehung und Dokumentation von transdisziplinärem Wissen aus praktischer Umsetzung. Somit sind Durchführende eines Realexperiments nicht nur Wissenschaftler:innen, sondern die Gesamtheit aller aktiv und passiv Mitwirkenden des Reallabors. Je nach Art des Realexperiments kommen diverse Methoden zur Anwendung.

Ein großes Problem von Reallaboren ist die Entstehung wissenschaftlicher Akzeptanz (Reinermann und Behr 2017, S.8). Damit ist die Bereitschaft gemeint, entstandene Ergebnisse anzunehmen und anzuerkennen. Klassisch versucht Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaft, natürliche Momente abseits des realen Lebens unter kontrollierbaren Bedingungen zu reproduzieren, um so eine wissenschaftliche Wirklichkeit zu erzeugen (ebd., S.7 aus Ziemer und Weber 2015, S. 6). Experimente der klassischen Naturwissenschaften im Labor haben allerdings wenig mit der unkontrollierbaren „Stadt-Realität da draußen“ zu tun. Vor allem die Künstlichkeit und starke Kontrollierbarkeit der Situation erlauben im Gegensatz zum Realexperiment eine Wiederholung bei gleichem Ergebnis. Dies führt viel einfacher dazu, dass die daraus gezogenen Schlüsse als gesicherte Erkenntnis gelten. Solche kontrollierbaren Bedingungen fehlen bei Realexperimenten, sodass unvorhersehbare, transformative Zwischen-Zustände entstehen können, die nur bedingt kontrollierbar und deswegen nicht beliebig wiederherstellbar sind. Sie entziehen sich damit konventioneller Laborcharakteristik (ebd.). Kurz gesagt: Realexperimente sind immer einzigartig und niemals mit exakt gleichen Ergebnissen wiederholbar. Da Realexperimente ein recht modernes Phänomen sind und bisher wenig erprobt sind, besteht geringe wissenschaftliche Akzeptanz (ebd.).

Allerdings ist für die Praxis genau dies von Vorteil, wenn bisher kaum wissenschaftliche Akzeptanz vorhanden ist. Die Wissenslücke zu Realexperimenten kann als Ansporn dienen, Realexperimente und ihre Absichten bekannter zu machen und ihre Relevanz zu betonen. Reallabore machen die pragmatische Erforschung realer, komplexer Zusammenhänge möglich und geben so einen Rahmen, Erkenntnisse aus der Praxis wissenschaftlich zu übertragen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Realexperimente benötigen im Gegensatz zu klassischen naturwissenschaftlichen Experimenten keine laborartigen, kontrollierten Rahmenbedingungen und stellen die Erprobung von Unbekanntem in den Vordergrund. Die Methode des Realexperiment ermöglicht es, in die Rolle des Hinterfragens komplexer gesellschaftlicher Verflechtungen hineinzuschlüpfen. Außerdem will sie dazu beitragen, die Bekanntheit und das Wissen über unkonventionelle Ansätze und Methoden zur Stadtentwicklung zu erhöhen sowie deren Anwendung und Nutzen weiter zu legitimieren. Grundsätzlich kann jedes Projekt als Realexperiment angesehen werden, wenn als zentraler Fokus neues Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge generiert werden soll. Die Summe solcher kleinen und größeren Realexperimente lässt sich als ein sich konstant im Wandel befindendes Reallabor beschreiben.

4. Rolle von Persönlichkeiten für die Potenzialentfaltung – mehr...

Realexperimente leben von Beteiligung und sind stark auf Menschen angewiesen, die neben verschiedenen Talenten natürlich auch ihre eigenen Persönlichkeitszüge mitbringen. In diesem Abschnitt geht es genau darum, denn bei der Beschäftigung mit dem Potenzial von Realexperimenten ist nicht nur die Betrachtung des „Charakters“ des Projektes relevant. Es kommt daneben auch die Frage nach der Rolle des Charakters der Beteiligten auf, die das Experiment planen, durchführen und vermitteln.

Die individuelle Persönlichkeit hat einen großen Einfluss darauf, wie ein Projekt gestaltet und kommuniziert wird. Als wünschenswerte Charaktereigenschaften kristallisiert der Soziologe Matthias Groß Folgendes heraus: „Eine gewisse Offenheit gegenüber den Projektpartnern und die Fähigkeit, sich sowohl in die Position der jeweils anderen Kolleg_innen hineinzuversetzen als auch von den Zielen der eigenen Organisation zugunsten des gemeinsamen Projektziels Abstand nehmen zu können, ist sehr hilfreich […]“ (Groß 2017, S.32). Ausschlaggebend ist also eine gewisse Kompromissbereitschaft, Flexibilität und bewusste Nutzung bestehender Handlungsspielräume, um ein möglichst freies und ergebnisoffenes Arbeiten zu ermöglichen (vgl. Groß 2017, S.32). Menschen, die diese Eigenschaften mitbringen und als treibende Kräfte in solchen Transformationsprojekten wirken, werden als “Pioniere des Wandels” oder “Change Agents” bezeichnet, (vgl. Arnold & Piontek, S.148f.).

Aus dieser Forschung und Auseinandersetzung mit menschlichen Eigenschaften in Hinblick auf das Gelingen von Realexperimenten lassen sich aber auch über individuelle Charaktereigenschaften hinausgehend bestimmte Prinzipien ableiten. Jede Akteur:innengruppe, die gemeinsam ein Realexperiment durchführt, sollte sich um folgende Prinzipien bemühen, die laut Literatur besonders vorteilhaft für einen fruchtbaren Experimentierprozess und das daraus entstehende Potenzial sind:

  • Offenheit
  • Einfühlungsvermögen/Empathie
  • Objektivität mit Subjektivität in Einklang bringen / Vogelperspektive einnehmen
  • Kooperationsfähigkeit
  • Kompromissbereitschaft
  • Flexibilität
  • Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln
  • Streben nach Veränderung

5. Zusammenfassung – mehr...

Die Besonderheit von Realexperimenten im urbanen Raum besteht in ihrer dahingehenden methodischen Ausgestaltung, praktisch und an einem realen Ort zu lernen sowie mit unvorhersehbaren Ereignissen und Nichtwissen offen und lernbereit umzugehen. Dabei sind nicht nur Wissenschaftler:innen involviert, sondern alle, die an dem Experiment beteiligt sind oder auch nur den ‚Raum‘ betreten, in dem es stattfindet. Grundsätzlich kann jedes stattgefundene Realexperiment per se als Erfolg bezeichnet werden, da das Hauptziel darin besteht, Wissen zu schaffen und einen reflexiven Lernprozess anzuregen. Die Generierung von transdisziplinärem Wissen geschieht durch die Einbindung möglichst vieler relevanter Akteur:innengruppen und die praktische Anwendung, die aufgrund von stets unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht wiederholbar ist (wie dies eine künstliche und streng kontrollierte Laborumgebung erlaubt). Für das Gelingen von Realexperimenten ist es von Vorteil, wenn empathische, kooperative Menschen beteiligt sind, die nach Veränderung streben und zu einem Perspektivwechsel in der Lage sind.

Realexperimente sind innerhalb der transformativen Forschung eine innovative Methode, Stadtentwicklung voranzutreiben und komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge greifbar und verständlich zu machen. Aus all dem ergibt sich für uns, dass Realexperimente grundsätzlich die Möglichkeit bieten, gesellschaftliche Veränderungen vorzubereiten und zu initiieren.

Quellen

Arnold A., Piontek F.M. (2018): Zentrale Begriffe im Kontext der Reallaborforschung. In: Di Giulio A., Defila R. (eds) Transdisziplinär und transformativ forschen. Springer VS, Wiesbaden.
Groß, M., Hoffmann-Riem, H., & Krohn, W. (2005): Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. transcript, Bielefeld.
Groß M. (2017): Experimentelle Kultur und die Governance des Nichtwissens. In: Reinermann, JL., Behr, F. (eds) Die Experimentalstadt. Springer VS, Wiesbaden.
Reinermann, J.-L; Behr, F. (2017): Die Experimentalstadt - Kreativität und die kulturelle Dimension der Nachhaltigen Entwicklung. Springer VS, Essen.
Schneidewind U., Scheck H. (2013): Die Stadt als „Reallabor“ für Systeminnovationen. In: Rückert-John J. (eds) Soziale Innovation und Nachhaltigkeit. Innovation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden.
Strenge F. (2019): Spielarten des Experimentierens als Potential zur Realisierung einer sozialen Urbanität.



Fazit: Was Realexperimente bewirken können

Welche Potenziale können Realexperimente entfalten, um Zukunftsvisionen zu gestalten, Transformationsprozesse anzuregen und langfristig Veränderung zu schaffen?

Realexperimente ermutigen uns, die zukünftige Gestaltung unserer Städte in die Hand zu nehmen. Sie geben unseren Visionen temporär Raum, im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne. Zukunftsvorstellungen und Ideen können schlicht ausprobiert und anhand von vorab aufgestellten Hypothesen auf ihre Wirkungen sowie Machbarkeiten getestet werden. Realexperimente sind in der Regel schnell, mit einfachen Mitteln und geringem Finanzierungsbedarf umsetzbar. Daraus ergibt sich das Potenzial, dass alle denkbaren Akteur:innen niedrigschwellig an Prozessen teilhaben können. Orte können durch das Experimentieren in ihrer Funktionalität hinterfragt werden und komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge werden vor Ort verständlich und steuerbar gemacht.

Realexperimente besitzen die Kraft, Transformationsprozesse voranzutreiben. Sie regen an, den Status-Quo zu hinterfragen und weiterzudenken, sodass sich Chancen für Neues auftun. Schon jetzt zeigt sich am Realexperiment der „Autofreien Friedrichstraße“, dass eine grundsätzliche politische Offenheit gegenüber neuen Methoden der Stadtentwicklung besteht. Die Ende Januar beschlossene Verlängerung des Experimentierzeitraums offenbart ein generelles Interesse daran, die Vision der „autofreien Friedrichstraße“ weiterzudenken.

Durch die Wissensgenerierung können relevante Wechselwirkungen und Kausalitäten aufgedeckt werden. Im Laufe eines Realexperiments können und dürfen sich Sichtweisen, Meinungen und die Akzeptanz von allen Beteiligten ändern und es kann Unterstützung, Verständnis oder auch Kritik hervorgerufen werden. Das konkrete Testen von Elementen des Realexperiments, beispielsweise Stadtmöbel probezusitzen, ermöglicht es zudem, im gemeinsamen Diskurs Herausforderungen zu erkennen oder sogar Planungsfehler aufzudecken. Darüber hinaus regen Reallabore an, brisante Themen zu behandeln und können vor allem zivilgesellschaftliche Akteur:innen empowern, sich aktiv für eine gesellschaftliche Transformation einzusetzen. Das Experiment in der Friedrichstraße offenbart auch in diesem Sinne Potenzial, durch die ausgelösten Diskurse gesellschaftliche Veränderungen anzustiften. Wenn alle Menschen als Teil der angewandten Forschung im Realexperiment angesehen werden, können vielfältiges Wissen generiert und diverse Vorstellungen der Zukunft verhandelt werden. Während des Prozesses ergibt sich das Potenzial, politische, zivilgesellschaftliche und weitere Akteur:innen für ein Vorhaben zu begeistern.

Wir sind überzeugt davon, dass Realexperimente eine enorme Strahlkraft, weitreichende Wirkmechanismen und vielschichtige Transformationskraft besitzen. Deshalb denken wir, dass Realexperimente wie die „Autofreie Friedrichstraße“ ein Startschuss für eine langfristig grundlegende Veränderung sein können.

In unseren Augen sollten Reallabore und Realexperimente als Anstoß gesellschaftlicher Transformation die gängige Praxis werden. Denn Transformation ist kein Grund zur Panik, sondern kann helfen, gemeinschaftlich aktuelle Zustände zu hinterfragen und anzupassen. Wir sollten vermehrt zulassen, dass sich Bürger:innen die Stadt und ihren Raum aneignen, denn das Stadtmodell einer konsumorientierten Innenstadt und das Bild der autogerechten Stadt sind ausgelaufen. Die entscheidende Frage ist nicht, wie man bestehende Strukturen aufrechterhalten kann, sondern vielmehr, welche Chancen für Neues entstehen. Ganz nach dem Motto: Neues experimentell wagen anstatt Altes zu retten!