Friedrich
straße
autofrei

Ein Werkzeug­kasten:

Temporäre Maßnahmen für einen langfristigen Nutzungswechsel im Straßenraum


Susan Carolin Hagemann, Séraphime Reznikoff, Chantal Schöpp


Was wird bei autofreien oder autoreduzierten Straßen bzw. Bereichen eigentlich „frei”? Die unmittelbare und aus wissenschaftlicher Perspektive doch hoch komplexe Antwort darauf ist: „öffentlicher Raum“. Was es mit diesem konkret auf sich hat, ist nur schwer greifbar. Denn öffentlicher Raum wird erst über seine Aneignung durch diverse Nutzer:innen zu einem solchen gemacht – er wird von Menschen gelebt. Dazu muss der Straßenraum jedoch erst einmal physisch zugänglich sein (Vgl. Klamt, 2012, 777ff). Modellprojekte bieten die Möglichkeit, sich sowohl in der physischen Verfügbarmachung als auch in der Bespielung öffentlichen Raums auszuprobieren. Zunächst einmal temporär, jedoch als Wegbereiter urbaner Zukünfte potentiell auch mit langfristigen Implikationen. Diese Implikationen und auch die Wirkungsweisen solcher Modellprojekte werden maßgeblich durch die konkrete Gestaltung des Projekts bestimmt. Für die Gestaltung stehen eine Bandbreite an Maßnahmen und Umsetzungsmöglichkeiten zur Auswahl, wie Referenzprojekte zeigen.

Diese Bandbreite an Gestaltungsmaßnahme n haben wir anhand verschiedener Referenzprojekte herausgearbeitet und in Form von „Toolkarten“ („Werkzeugkarten“) zusammengefasst. Daraus ist ein „Werkzeugkasten” aus 32 Toolkarten zur Gestaltung autofreier Projekte entstanden, der nachfolgend einsehbar ist. Die Toolkarten sind sechs thematischen Kategorien zugeordnet: 1. Extern hinzugefügte Objekte, 2. Neuaufteilung des Straßenraums, 3. Sicherheitsmaßnahmen, 4. Partizipation, 5. Datenerhebung, und 6. Sonstiges. Bei der Erarbeitung der Maßnahmen wurden Grundvoraussetzungen wie finanzielle Ressourcen und rechtliche Genehmigungen als gegeben erachtet und somit nicht als Maßnahmen miteinbezogen. Der Werkzeugkasten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Um tiefere Einblicke in die verschiedenen Wirkungsweisen und Einsatzmöglichkeiten der einzelnen Maßnahmen zu erhalten, wurden diese in sechs digitalen Expert:inneninterviews mit sieben Referent:innen eines möglichst breiten Meinungs- und Wissensspektrums ausführlich besprochen. Ergänzungen und Konkretisierungen wurden eingearbeitet sowie zusätzliche Anmerkungen und Einschätzungen hinsichtlich der Maßnahmen auf der Rückseite jeder Karte dokumentiert. Einige der Toolkarten wurden auch selbst von den Expert:innen hinzugefügt oder in Kombination miteinander als besonders wirkungsvoll erachtet und sind dementsprechend mit einer Anmerkung versehen. Von den Expert:innen wurden neun Maßnahmen hervorgehoben, die als besonders relevant zur Schaffung neuen öffentlichen Raums erachtet wurden. Diese neun Toolkarten sind nachfolgend in einem Blumenstrauß zusammengefasst. Der Blumenstrauß sowie die gesamten Toolkarten können neuen Projekten als Orientierung bei der Konzeption von Gestaltungsmaßnahmen und der Schwerpunktsetzung innerhalb des Projekts dienen.

Quelle: Klamt, M. (2012). Öffentliche Räume. In: Eckardt, F. (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie (S. 775-804). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Unsere Auswertung

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Bei der Betrachtung des Blumenstraußes wird deutlich, dass es bei der Auswahl von Maßnahmen zur Umgestaltung des Straßenraums einer hohen Vielfalt und somit einer ganzheitlichen Herangehensweise bedarf. Zudem wurde in allen Interviews betont, dass die Toolkarten nicht losgelöst voneinander, sondern im Hinblick auf ihr Zusammenwirken ausgewählt werden sollten. Manche Toolkarten seien in Kombination miteinander besonders wirkungsvoll oder bei ähnlicher Funktion auch überflüssig. Der Austausch mit Expert:innen eines breiten Spektrums an Hintergründen hat nicht zuletzt auch gezeigt, dass die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten stark umstritten sind. Jede Maßnahme scheint eine Projektionsfläche für verschiedene Perspektiven auf die Stadt zu bieten. Dennoch stimmten alle Interviewten darin überein, dass die besprochenen Modellprojekte wichtig und sinnvoll seien, und erkannten an, dass das Ausprobieren bei diesen Projekten im Vordergrund stehen müsse. Ihre Funktion als Testfeld autofreier oder - reduzierter Zukünfte begründe ihre Daseinsberechtigung und Relevanz. Dabei biete gerade ihr temporärer Charakter die Chance, solche Experimente mit relativ wenig Aufwand und geringen Risiken niederschwellig anzugehen. Herausforderungen im Ablauf sowie rege Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen seien dabei zu erwarten – Modellprojekte seien eben ein laufender Lernprozess. Gerade dadurch können Modellprojekte jedoch wichtige Erkenntnisse für langfristige oder permanente Umgestaltungen liefern und so größeren Wandlungsprozessen zuarbeiten. Die Toolkarten können neuen Modellprojekten für Autofreiheit oder -reduzierung als Inspiration und Überblick über die diversen Gestaltungsoptionen dienen. Sie können dabei helfen zu überprüfen, welche temporären Maßnahmen zur Schaffung öffentlichen Raums in solchen Projekten geeignet sind. Jedoch wurde aus den Expert:inneninterviews eines deutlich: es gibt nicht den einen „richtigen” Weg zur Umgestaltung von Straßenräumen. Städte, Quartiere und auch einzelne Straßen stellen lokalspezifische An- und Herausforderungen. Der Einsatz der Werkzeuge sollte also stets passgenau für die konkreten Bedingungen des Ortes und des Projekts geplant werden.

Die Expert:innen

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Die Auswahl der Expert:innen begründet sich in der Repräsentation eines möglichst breiten Meinungs- und Wissensspektrums. Alle Expert:innen setzen sich beruflich, wissenschaftlich oder privat intensiv mit dem Thema autofreie Stadt und/oder dem spezifischen Projekt autofreie Friedrichstraße auseinander. Die Interviews wurden unter anderen mit folgenden Expert:innen geführt:

Christian Haegele
Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz; Leitung der Abteilung Verkehrsmanagement

Marian und Nina vom Volksentscheid Berlin autofrei
Mitglieder bei der Initiative Volksentscheid Berlin autofrei. Ziel der Initiative ist deutlich weniger Autoverkehr und eine flächengerechtere Nutzung der Straßen innerhalb des Berliner S- Bahnrings. Ein Volksbegehren wurde bereits eingeleitet.

Dr.-Ing. Stefan Lehmkühler
Koordinator des Netzwerks Fahrradfreundliche Mitte im Changing Cities e.V. sowie Initiator des Modellprojekts autofreie Friedrichstraße.

Peter Wendel
Autor und Kommentator zum Thema Radverkehr, www.berlin-fahrrad.city



So sind die Toolkarten aufgebaut:

Vorderseite

Rückseite



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extern hinzugefügte Objekte

Neuaufteilung Straßenraum

Sicherheitsmaßnahme

Partizipation

Datenerhebung

Sonstiges